Kurzkrimi – Wer andern eine Grube gräbt

Das erste Buch mit 20 spannenden Kurzkrimis.

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Leseprobe

Edeltraut war nicht zu Hause. Das war lange nicht mehr vorgekommen. Seit fünf Jahren nicht mehr, und damals hatte sie diese Affäre mit Rupert gehabt. Aber das konnte es nicht schon wieder sein. Edeltraut hatte ihm versprochen, dass sie Rupert nie mehr wiedersehen würde. Außerdem saß Rupert immer noch im Gefängnis.

Gerold Hagen ging in die Küche und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Mit der Flasche in der Hand trat er ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche.

Dann sah er den Zettel auf dem Wohnzimmertisch.

Er las:

Ich bin bei Irma in Garmisch. Sie braucht dringend meine Hilfe. Ich ruf dich an.

Edeltraut.

Er kannte Irma. Er hatte sie mit Edeltraut schon mal besucht. Sie wohnte in einem hübschen Haus in Ulm auf dem Eselsberg. Irma war auch schon bei ihnen zu Besuch gewesen. Sie war nett. Er mochte Irma. Aber in der Nähe von Ulm, in Blaustein, hatte auch Rupert gewohnt.

Gerold rief Irma an. Sie hob nach dem ersten Klingeln ab, als hätte sie neben dem Telefon gewartet.

„Oh Gerold“, schluchzte Irma. „Ich bin so froh, dass du anrufst. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“

„Was ist passiert?“ Gerold zwang sich zur Ruhe. „Ist Edeltraut bei dir?“

„Das ist es ja“, sagte Irma. „Sie war hier. Aber jetzt ist weg.“

„Weg?“ Gerold hielt den Atem an. „Was heißt, sie ist weg? Wo ist sie hingegangen?“

„Ich weiß es nicht. Sie ging gestern Abend weg und ist bis jetzt nicht zurückgekommen.“

„Mit wem ging sie weg?“

„Das hat sie mir nicht gesagt. Aber… aber Rupert ist wieder draußen. Ich habe schon daran gedacht, die Polizei zu alarmieren…“

„Nein, keine Polizei!“ In Gerolds Brust begann sich ein dumpfer Schmerz auszubreiten. „Warte, bis ich bei dir bin.“

„Aber…“

„Tu’ mir den einen Gefallen und unternimm nichts. Warte, bis ich bei dir bin.“

Er legte auf, rannte zum Auto und fuhr los.

Er schaffte die Strecke von Ehingen nach Ulm in zwanzig Minuten. Vor Irmas Haus stellt er den Motor ab. Erst jetzt fühlte er, wie er am ganzen Körper zitterte. Während der Fahrt waren ihm die schrecklichsten Gedanken durch den Kopf gegangen. Zweimal hatte er nur knapp einen Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Fahrzeug verhindern können. Durch seine Unaufmerksamkeit war er zu weit in die Straßenmitte geraten. Jetzt wartete er ein paar Minuten, bis er sich etwas beruhigt hatte. Dann stieg er aus und klingelte.

Irma öffnete ihm sofort. Ihre Augen waren rot vom Weinen.

„Sie hat sich noch immer nicht gemeldet“, sagte Irma. „Ich habe Angst, dass er …“ Sie brach ab und sah ihn mit tränennassen Augen an.

Es war inzwischen neun Uhr abends.

Äußerlich war Gerold jetzt die Ruhe selbst. Er ließ sich seine Enttäuschung und Wut nicht anmerken.

„Weißt du, wo der Kerl jetzt wohnt?“ fragte er.

Irma schüttelte den Kopf.

„Hat er immer noch einen Schlüssel zu der kleinen, alten Hütte zwischen Hausen und Justingen, bei… bei Muschenwang?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Irma. „Ich habe nichts mehr von ihm gehört, seit…“

Seit damals, als Edeltraut wegen diesem Verbrecher den Kopf verloren hatte, wollte sie sagen. Aber Gerold hätte es doch nicht mehr gehört. Er war schon an der Tür, riss sie auf und brauste mit seinem Wagen davon.

Eine halbe Stunde später hatte er sein Ziel fast erreicht. Am Parkplatz, kurz nach Hausen bog er ab, ließ den kleinen Parkplatz aber links liegen und fuhr noch ein Stück am Waldrand entlang. Etwa nach fünfzig Metern entdeckte er eine geeignete Stelle, um seinen Wagen zwischen den Bäumen abzustellen. Hier würde das Auto um diese Zeit niemand sehen. Dann machte er sich mit einer kleinen Taschenlampe auf den Weg zur Hütte. Er kannte den Weg. Trotzdem verlief er sich in der Dunkelheit einmal. Das schwache Mondlicht und die winzige Taschenlampe halfen ihm nur wenig.

Endlich erreichte er die kleine Lichtung. Selbst im matten Mondlicht konnte man sehen, dass die Hütte dem Zerfall nahe war. Er schlich sich von hinten an. Neben der Hütte, im weichen Waldboden, entdeckte Gerold Fußspuren. Also war er hier.

Eine Weile verharrte er auf der Stelle. Er legte sein Ohr an die Außenwand. Nichts. Es war still in der Hütte. Er sah sich nach einer Waffe um, wählte einen kurzen, dicken Ast aus und trat auf die Tür der Hütte zu. Sein Herz schlug ihm bis im Hals.

Schon beim ersten kräftigen Fußtritt gab die Tür nach, und er war mit einem Satz im Raum.

Die Hütte war leer. Aber Edeltraut war hier gewesen. Er roch noch ihr Parfüm.

Hagen zündete die Petroleumlampe an und hängte die Tür ein. Langsam sah er sich in dem Raum um.

Sein Blick blieb an dem primitiven Bett hängen. Die Bettdecke war zerwühlt, und auf dem schmutzigen Kopfkissen lag ein hellblauer Seidenschal. Er gehörte Edeltraut, das wusste er genau. Er hatte ihn ihr erst vor einigen Wochen von einer Reise mitgebracht.

Und dann sah er das Blut auf dem Boden neben dem kleinen Tisch. Wie gelähmt starrte er auf die dunkle Flüssigkeit. Das Blut war noch nicht ganz geronnen.

Es ist Edeltrauts Blut, dachte er. Er hat sie umgebracht. Der verdammte Hund hat sie umgebracht!

Lange Zeit war er nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Hass umnebelte sein Gehirn.

Aber dann riss er sich endlich zusammen. Er suchte weiter. Er fand ein paar Kleidungsstücke, einen Koffer, eine Reisetasche und etwas zu essen.